Bach: St John Passion (Concert Review - Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2016)

Zeugen einer Gerichtsverhandlung

Gastspiel aus England: Johannes-Passion in der Alten Oper

Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion ist vor Ostern allerorten ein Muss.  Seine Johannes-Passion BWV 245 hingegen, die in verschiedenen Fassungen vorliegt, doch kaum in einer authentischen Version von quasi "letzer Hand" zu edieren möglich scheint, steht noch heute ein wenig im Schatten des weitaus opulenteren und ausgedehnteren Schwesternwerks.  Dabei ist gerade sie doch das kompaktere, lakonischere, in Harmonieführung und Ariengestaltung viel avanciertere Opus.  Das hat schon Robert Schumann so empfunden in einer Zeit, in der Öffentlichkeit sich wieder mit barocken Meistern zu beschäftigen begann: Felix Mendelssohn Bartoldys Wiederaufführund der Matthäus-Passion 1829 hatte den Anstoß dazu gegeben.

Selten wurden einem die atemberaubenden Kühnheiten derart direkt vor Ohren geführt wie jetzt bei einem Gastspiel aus England: In der Alten Oper Frankfurt waren als Teil der vom Konzerthaus in Kooperation mit dem Verein Frankfurter Bachkonzerte veranstalteten Reihe das Orchestra of the Age of Enlightenment und der 1986 gegründete Chor "Polyphony" unter der Gesamtleitung von Stephen Layton auf dem Podium.  Schon bei dem Eingangschor der Johannes-Passion, "Herr unser Herrscher", rieb man sich verwundert die Augen und fragte sich, wie win aus nur 26 Mitgliedern bestehender Chor eine derartige Klangfülle gerbeizaubert - dies nich mit letzer Kraft überanstrengter Stimmorgane, sonder völlig souverän, in der Klangmischung sorgfältig austariert, wunderbar homogen und mit dezidiert kultivierter Stimmführung.  Der gesamten Aufführung eignete eine bemerkenswerte Transparenz, unterstütz vom schlanken Spiel des Orchesters auf alten Instrumenten und in der Spielart der historischen Aufführungspraxis.

Ein hochkarätiges, gut miteinander abgestimmtes Solistenensemble agiertebeinahe so, als würde man als Zuschauer einer Gerichtsverhandlung beiwohnen, auf der eben so viel gestritten wie polemisiert und auch moralisiert wurde:  Ian Bostridge sang die Partie des Bericht erstattenden Evangelisten mit zahlreichen Nuancen, die bei äußerst flexiblem Stimmeinsatz und hart aneinandergeschnittenen Kontasten die psychologische Spannweite zwischen warmen Worten und eiskalter Gehässugkeit deutlich werden ließ - wie im wirklich Leben.  Die Übrigen fügten sich fast nahtlos in das Konzept:  Neal Davies sang die Jesusworte mit so ausgeglichener Ruhe und Überlegenheit, dass darob die Ratlosigkeit des Pontius Pilatus geradezu greifbar wurde.  Sehr abgerundet und wohltimbriert die Arien-Solisten Julia Doyle (Sopran), Iestyn Davies (Countertenor) und Roderick Williams (Bariton). Ledigich der rech gestenreich agierende Tenor Stuart Jackson offenbarte eine um wenige Nuancen zu große Opernnähe.

HARALD BUDWEG