Ešenvalds: Passion and Resurrection & Other Choral Works (CD Review - blog.codaex.de, 2011)

In den drei Republiken des Baltikum gab es immer schon eine ausgeprägt hochklassige und vielfältige Musikszene, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder richtig aufblühte. Nun, rund 20 Jahre danach, ist sie zu einem bedeutenden Faktor in der europäischen Szene der zeitgenössischen Musik (sowohl im Jazz, als auch in der zeitgenössischen klassischen Musik) geworden. Zahlreiche Komponisten und Solisten werden nun in Westeuropa und den USA ‘entdeckt’, die zu Hause schon seit jungen Jahren gefeiert wurden. Baltische Musiker und Komponisten zeichnen sich durch einen erfrischenden Nonkonformismus aus, der das Lager-Denken des westlichen Musikbetriebs weitgehend ignoriert und damit neue Horizonte eröffnet.

Der Komponist und Tenor Ēriks Ešenvalds (Jahrgang 1977) ist ein gutes Beispiel für diese neue Generation aus dem Baltikum: Wie viele seiner Landsleute lässt auch er sich musikalisch nicht in die gängigen Kategorien einordnen. Ešenvalds jetzt schon beeindruckend großes Œuvre ist ein Spiegel ganz unterschiedlicher Einflüsse, die auf seine mit Bedacht ausgewählten Lehrer, aber auch auf seinen breit gefächerten Interessen zurückzuführen sind: Dissonanz oder Konsonanz, schlichte Melodien oder rhythmisch komplexe Gebilde, Ešenvalds Werke folgen keiner bestimmten Schule oder Strömung, sondern passen sich dem jeweiligen Anlass, dem jeweiligen Ziel der Komposition an. Dies ist ein Pragmatismus, der unserem fast ideologisch geprägten Verhältnis von Komponist und Werk ein wenig zuwider läuft, doch in Wirklichkeit erinnert Ešenvalds unverkrampfter Umgang mit Stilen und Techniken an barocke Großmeister wie Johann Sebastian Bach oder Georg Friedrich Händel, die es ebenso verstanden, ihren Stil dem gewünschten Ergebnis genau anzupassen und sich dieser Fähigkeit wie selbstverständlich bedienten.

Ešenvalds internationales Debütalbum »Passion and Resurrection« (auf Hyperion Records) ist dann auch entsprechend abwechslungsreich geworden und fasst unterschiedlich geartete Chorwerke zusammen. Während zum Beispiel “Legend Of The Walled-In Woman” südosteuropäische Volksmusik-Einflüsse verarbeitet (genauer gesagt albanische), überrascht “Long Road” mit der an ein Kirchenlied erinnernden Schlichtheit, während wiederum das Hauptwerk dieser CD “Passion and Resurrection” ein ineinander greifendes Netz von Texten und Stilen ist, die fragmentarisch bleiben und sich dennoch zu einem Ganzen zusammenfügen, ganz wie bei einem Mosaik, das man erst ganz erfassen kann, wenn man nicht die Einzelteile, sondern das Gesamtbild betrachtet.

Es bedarf schon eines so unglaublich vielseitigen Chor-Ensembles wie Polyphony – spätestens seit ihrer phänomenalen Messiah-Aufnahme (2009) sollte jedem Musikfreund dieser Name als Synonym für höchste Präzision und schlüssigste Interpretationen sein – um so eigentümlich eklektizistische Werke zu einem faszinierenden Klangerlebnis auszugestalten. Sie werden beim Titelstück unterstützt von der nicht minder überragenden Britten Sinfonia und der wundervollen Carolyn Sampson als Sopran-Solistin (bekannt durch ihre überragenden Alte-Musik-Interpretationen, zuletzt hier als fragile Dowland-Interpretin).

Nicht zuletzt wegen der hervorragenden Ensemble-Leistung ist »Passion and Resurrection« eine überraschende, überaus gelungene Empfehlung (nicht nur) zum Osterfest geworden, mit faszinierender Vokalmusik, jenseits der Renaissance, Barock, Klassik und Romantik und doch mit spürbaren Berührungspunkten. Der (weitere) Aufstieg Ēriks Ešenvalds zu einem Star der jungen Komponisten-Generation wurde mit dieser Aufnahme  nachhaltig beschleunigt. Die besondere CD, erschienen im März 2011.

Geschrieben von Sal Pichireddu
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